Wie Schildkröten wachsen

Seit 2004 dokumentiere ich das Wachstum meiner adulten Testudo hermanni boettgeri und deren circa 140 Nachkommen. Ich führe vergleichende Messreihen durch und fotografiere den Panzer einmal jährlich aus unterschiedlichen Perspektiven. Da ich einige Nachzuchten über viele Jahre behalte, konnte ich Zusammenhänge zwischen Inkubation, Aufzuchtbedingungen und Wachstum herstellen.  

Eine meiner T.hermanni boettgeri Nachzuchten als Schlüpfling, als Jungtier und als fast ausgewachsenes Tier. Jahren. Die Schildkröte hatte ein Schlupfgewicht von 13g. In 15 Jahren hat sie 850g zugenommen. Auch die Panzerform hat sich verändert. Die Marginalschilde im Bereich der Hinterbeine sind ausladender geworden.

Der größte Zuwachs bezogen auf die Gesamtgröße erfolgt während der embryonalen Phase in den ersten Inkubationswochen. Die Bruttemperatur wirkt sich direkt auf das Entwicklungstempo aus. Kühle Phasen, Nachtabsenkungen oder durchgehend niedrige Temperaturen verlangsamen den Wachstumsverlauf im Ei. Die Inkubationsbedingungen beeinflussten das spätere Wachstum meiner eigenen Nachzuchten nicht. Für die spätere Entwicklung spielte es keine Rolle, ob die Eier wie bei bei ungewollten natürlichen Inkubationen im Freigehege an die 100 Tage im Boden lagen oder ob sie bei durchgehend 33°C bebrütet wurden. Es wirkte sich auch nicht auf das spätere Wachstum aus, ob sie vergraben oder substratlos, feucht oder trocken, mit oder ohne Nachtabsenkung inkubiert wurden. Oft schlüpften aus den Eiern eines unter gleichen Bedingungen inkubierten Geleges sowohl schneller als auch langsamer wachsende Nachzuchten.

Die Matrix der später entstehenden Hornschilde bildet sich bereits im ersten Drittel der embryonalen Entwicklung. Das Mosaik bleibt zeitlebens erhalten. Noch im Ei bilden die Schilde des Carapax den ersten Wachstumsring. Das Plastron dagegen hat kurz nach dem Schlupf noch keinen Zuwachsring (siehe Abb. 1 und 2). 

Vom ersten Lebenstag an hat ein Schlüpfling alles, was er zum Überleben in der Wildnis braucht. Sinnesorgane und Gliedmaßen sind voll entwickelt. Lange spitze Krallen helfen beim Klettern und selbstständigen Umdrehen. Der Verdauungsapparat ist bereits funktionsfähig. Obwohl Schildkröten keine Brutpflege betreiben und somit keine mütterlichen Instinkte angesprochen werden brauchen, folgt die äußere Erscheinung eines Schlüpflings einem Kindchenschema, mit einem vergleichsweise großen runden Kopf und einem kugeligen Gesamtbild.

 

Thb frisch geschlüpft

Der unter den Hornschilden verborgene Knochenpanzer ist kurz nach dem Schlupf  nur andeutungsweise ausgebildet. Von der feinen Wirbelsäule zweigen lediglich sehr zarte Ansätze der Rippenknochen ab. Der Knochenpanzer des Plastron ist unter dem Bauch durch eine große Fontanelle geteilt, die sich im Laufe der ersten 3-4 Lebensjahre schließt. (Cheylan, 2001). Das führt dazu, dass die Schilde des Plastron beim Schlüpfling je nach Feuchtigkeit entweder prall und nach außen gewölbt oder auch leicht nach innen gezogen sind. Ein flexibler Bauchpanzer ist beim Jungtier also keinesfalls ein Hinweis auf eine Fehlentwicklung durch UV-Mangel, wie manchmal befürchtet wird, sondern ein Zeichen, dass die Fontanelle noch nicht geschlossen ist. Im Laufe der ersten Lebensjahre wird die Grundlage für die zukünftige Form des Knochen- und Hornpanzers gelegt, was sich auf die Größe der Körperhöhle und damit auf die Lage der Organe auswirkt. 

 Das selbe Tier 7 Jahre später. Die Areolen sind rot gekennzeichnet. Die grünen Pfeile zeigen den Wachstumsverlauf.

Bei Schildkröten im natürlichen Lebensraum und in sehr naturnaher Haltung entsteht pro Jahr ein neuer Wachstumsring. Die Hauptwachstumszeit ist im Frühjahr. Nach der Pubertät wird der Zuwachs geringer und die Wachstumsringe liegen dichter beieinander bis sie schließlich nicht mehr voneinander abzugrenzen sind. Mehr dazu auf der Textseite Altersbestimmung. Bei meinen Schildkröten habe ich festgestellt, dass Männliche Jungtiere im Alter von 4-6 Jahren ihren größten Zuwachs aufweisen, während Weibchen zwischen 7 und 8 Jahren erst richtig loslegen. 1-2  Jahre vor der ersten Eiablage überrunden die die Weibchen die Männchen größenmäßig.

Das Wachstum hört nie ganz auf, wie das Beispiel eines ca. 70-jährigen Thb-Männchens zeigt. Allerdings wachsen alte Schildkröten weniger in die Länge, sondern in die Breite oder in die Höhe. Daher ist das Stockmaß SCL zum Abgleich mit dem Gewicht bei adulten Tieren nur bedingt geeignet. Alte Schildkröten sind schwerer im Verhältnis zur Größe.


Zuwachs entlang der Mittelnaht des Plastron bei einem sehr alten Thb Männchen,nachdem sich die Bedingungen zu seinen Gunsten verbesserten

Will man die Entwicklung einer Schildkröte dokumentieren, ist es sinnvoller, die Schildkröte zu messen als sie zu wiegen. Denn das Gewicht unterliegt täglichen Schwankungen. Die meisten Wissenschaftler verwenden das Stockmaß SCL (Straight Carapax Length), also das Längenmaß des Panzers, wie man es mit einer Schieblehre abgreifen kann. Für Schildkröten über 15cm Länge verwende ich ein selbstgebautes "Tortometer" (s.Abb. unten) Als Vorbild diente die Konstruktion von Hailey auf der Seite measuring length die ich so abgewandelt habe, dass sie sich schildkrötenfreundlicher handhaben lässt.

Ermittlung des Stockmaßes SCL mit einem "Tortometer" oder einfach mit einem Bleistift und einem Blatt Papier


Wie groß werden Schildkröten? 

Die Größe einer ausgewachsenen Schildkröte hängt hauptsächlich von zwei Faktoren ab: Genetische Disposition und Futterverfügbarkeit.

Zum einen wird die endgültige Größe über die Elterntiere vererbt und ist abhängig von der Art und Lokalform. Die kleinsten Exemplare sind T.hermanni hermanni aus Kalabrien und Apulien (Leone, 2017). Die größten Europäischen Landschildkröten sind T.marginata, die in freier Wildbahn bis 40cm lang werden können. T.hermanni boettgeri ist größenmäßig sehr variabel. Die größte wildlebende T.hermanni boettgeri wurde im Juni 1987 von Holzfällern in einem Waldgebiet in den Ostrhodopen (Bulgarien) gefunden. Sie hatte ein Stockmaß von knapp 39cm und wog 5860g. Nach der Fütterung mit Opuntienfrüchten erreichte sie fast 7kg (Beshkov, 1997). 

In einem Gehege des „Tortoise Center Geachelonia“ an der bulgarischen Schwarzmeerküste kann man zwei überdurchschnittlich große T. graeca ibera-Wildfänge bewundern, die 3,5 bis 4kg wiegen. Sie befinden sich dort in Schutzhaft, denn das Leben in Freiheit ist gefährlich geworden. Das Risiko, im Kochtopf zu landen oder von landwirtschaftlichen Geräten geschreddert zu werden ist enorm.

T.graeca ibera wird im Durchschnitt größer als T.hermanni boettgeri und diese wiederum größer als T.hermanni hermanni. Die Lokalform hercegovinensis liegt größenmäßig zwischen Thh und Thb. Die Weibchen sind bei Europäischen Landschildkröten in der Regel deutlich größer als die Männchen. Nur bei T.marginata ist es umgekehrt. Das Gewichtsverhältnis von männlichen zu weiblichen Thb in Griechenland beträgt im Durchschnitt 1:1,4 (Hailey, Willemsen 1999) 

Je weiter östlich das Habitat liegt desto stärker gleicht sich bei T.hermanni die Größe der beiden Geschlechter an. Auf dem östlichen Balkan sind Thb-Männchen fast ebenso groß wie die Weibchen (Beshkov, 1997). Die drei größten jemals aufgefundenen wildlebenden T. graeca ibera und die größte T.hermanni boettgeri stammten aus Bulgarien und waren nicht etwa weiblich sondern männlich (ebd.).

Die Größe ist aber nicht nur ein genetisches Merkmal, sondern auch an die Umweltbedingungen geknüpft. Dort, wo Grünfutter am üppigsten wächst, und die Trockenphasen am kürzesten sind, finden sich die größten Exemplare. Bei T.hermanni boettgeri ergibt sich dadurch ein deutliches Nord-Süd-Gefälle. Die kleinsten wildlebenden T.hermanni boettgeri leben bei Kalamata auf der Peloponnes, die größten auf dem zentralen Balkan. (Hailey, Willemsen 1999, Beshkov 1997, Philippen 2009). Trockenheit und Hitze zwingen die Tiere in den südlichen Gebieten zu einer Ästivation, und damit zu einem Wachstumsstopp, während die Futteraufnahme in den gemäßigteren Zonen den ganzen Sommer über erfolgt.  

Durch die menschliche Zivilisation werden Landschildkröten in trockene karge, landwirtschaftlich nicht nutzbare Gebiete zurück gedrängt. Hier haben die kleineren Tiere, die entsprechend weniger Futter brauchen, Vorteile. Als Überlebenskünstler kommen sie in trockener, felsiger Umgebung zurecht, was aber nicht heißen muss, dass dies ihr bevorzugter oder natürlicher Lebensraum ist. Allerdings scheint es so zu sein, dass bei Schildkröten die Thermoregulation eine größere Rolle spielt als die Futterverfügbarkeit. Im Zweifelsfall wird eine Schildkröte ein ausreichend warmes und sonniges Areal einem üppig Bewachsenen vorziehen. Dies ist ein Gesichtspunkt, der auch bei der Gehegegestaltung zu beachten ist.

Wenn man in einem Schildkrötengebiet hauptsächlich klein gewachsene adulte Schildkröten zu Gesicht bekommt, kann es daran liegen, dass die Populationen dort regelmäßig lebensbedrohlichen Gefahren ausgesetzt sind, so dass keine ihre endgültige Größe erreicht. 

Wachstumstabelle: Das Gewicht meiner Thb im Verhältnis zum Stockmaß


Wer mehr zu diesem Thema erfahren möchte lese meinen Artikel im Fachmagazin Schildkröten im Fokus 4/19
"Wie Schildkröten wachsen"



 

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